L. Haller: Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus

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Title
Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus


Author(s)
Haller, Lea
Series
edition suhrkamp (2731)
Published
Berlin 2019: Suhrkamp Verlag
Extent
512 S.
Price
€ 18,00
by
Christof Dejung, Historisches Institut, Universität Bern

Die Schweiz ist eine der wichtigsten Drehscheiben des internationalen Rohstoffhandels. Gemäss neuesten Berechnungen werden zwischen 40 % und 60 % des weltweit gehandelten Rohöls, Kaffees, Zuckers oder Weizens durch Unternehmen umgesetzt, die ihren Hauptsitz in der Schweiz haben. Diese erstaunliche Tatsache ist zum einen eine Folge davon, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges zahlreiche ausländische Handelshäuser in der Schweiz niederliessen. Dies nicht zuletzt aufgrund der handfesten Steuervorteile, welche Kantone wie Genf oder Zug den ausländischen – meist russischen und amerikanischen – Firmen zu gewähren bereit waren. Zum anderen geht die Geschichte des schweizerischen Transithandels zurück auf das 19. Jahrhundert, als Schweizer Handelshäuser wie André, Volkart, Siber Hegner, Diethelm, die Basler Handelsgesellschaft oder Paul Reinhart zu festen Grössen im internationalen Rohstoffgeschäft wurden.

Die Entwicklung des schweizerischen Transithandels – also von Handelsgeschäften, die zwar von der Schweiz aus organisiert wurden, ohne dass die physischen Waren notwendigerweise die Schweiz passierten – schildert Lea Haller, in ihrer Studie Transithandel. Die Autorin möchte dabei nicht erklären, «wieso die Schweiz so reich geworden ist», sondern sie thematisiert die Rolle von Handelshäusern als unverzichtbare Intermediäre eines «grenzüberschreitenden Kapitalismus, der das hervorgebracht hat, was man seit etwa 1900 ‹Weltwirtschaft› nennt» (S. 39 f.).

Lea Haller erzählt diese Geschichte in zehn Kapiteln. Im einleitenden ersten Kapitel wird auf die Dialektik von politischen und wirtschaftlichen Räumen verweisen: Staaten spielten zwar eine wichtige Rolle für die Entstehung von Märkten, indem sie die rechtlichen Rahmenbedingungen festhielten oder – im Fall des Imperialismus – fremde Märkte mit Gewalt öffneten. Die konkreten Wirtschaftsbeziehungen waren jedoch in der Hand von privaten Unternehmern, deren Interessen häufig nicht deckungsgleich waren mit denen staatlicher Bürokratien. Kapitel zwei schildert die Entwicklung der Handelsgeschäfte in der Frühen Neuzeit, in der Schweizer Kaufleute sich in allen möglichen Geschäftsfeldern betätigten – vom Handel mit Uhren, Baumwolltüchern oder Kaffee bis hin zum transatlantischen Sklavenhandel – und erläutert anschliessend die Veränderungen im Zeitalter der Industrialisierung, in der sich Handelsfirmen zunehmend auf bestimmte Rohstoffe spezialisierten. Das dritte Kapitel beschreibt die Tätigkeit von Schweizer Handelshäusern in asiatischen und afrikanischen Ländern, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch europäische Grossmächte kolonisiert wurden. Dies belegt einmal mehr, wie sehr die Schweiz in die koloniale Weltordnung eingebunden war, obwohl sie selber keine Kolonien besass. Kapitel vier beschäftigt sich mit den «Techniken der Globalisierung», also der Bedeutung von Versicherungen, Terminmärkten und bargeldlosem Zahlungsverkehr für das internationale Handelsgeschäft. Anschliessend folgt im fünften Kapitel ein Abriss über die Auswirkungen des Erste Weltkrieges, während dem der kosmopolitisch ausgerichtete Kapitalismus mehr und mehr durch die Zuordnung einzelner wirtschaftlicher Akteure zu bestimmten Nationen ersetzt wurde. Kapitel sechs und sieben schildern die Schwierigkeiten der Transithändler in der Zwischenkriegszeit. Diese schlossen sich 1933 zu einem Verband zusammen, um im Zeitalter der Clearingabkommen bei der schweizerischen Regierung für die Anliegen der Handelshäuser lobbyieren zu können. Kapitel acht beleuchtet die Entwicklung des Welthandels in der Nachkriegszeit. Kapitel neun erläutert einerseits, welche Schwierigkeiten die mangelhafte Erfassung von grenzüberschreitenden Handelsgeschäften in der nationalen Statistik für die wirtschaftshistorische Untersuchung dieses Geschäftszweiges bietet, und argumentiert andererseits im Anschluss an die Neue Institutionenökonomie, dass Handelshäuser eine wichtige Funktion für die Entstehung von Märkten hatten, indem sie Informations- und Transaktionskosten reduzierten. Im zehnten Kapitel, dem Thema angemessen mit «Inventur und Bilanz» überschrieben, wird unter anderem festgehalten, dass die Nation nicht nur als Grundlage, sondern auch als Folge von transnationalen Austauschbeziehungen zu interpretieren sei.

Lea Haller hat ein äusserst lesbares Buch geschrieben, in dem erstmals in voller Breite dargestellt wird, wie die Schweiz zu einer Drehscheibe für den internationalen Warenhandel wurde. Geschickt wird geschildert, welche Auswirkungen technische Innovationen und die Veränderungen in der internationalen Politik auf die diffizilen Handelsgeschäfte hatten, und wie die betreffenden Firmen auf diese Herausforderungen reagierten. Der Fokus auf die Schweiz ist dabei einerseits eine Stärke der Studie, da es diese Beschränkung erlaubt, die äusserst komplexe Geschichte des Welthandels als stringente Geschichte zu erzählen. Andererseits hat dieser Helvetozentrismus auch seine Tücken: Abgesehen von zweieinhalb Seiten, auf denen die Autorin die Bedeutung von chinesischen Compradoren und indischen Brokern für die Geschäftstätigkeit in Asien hervorhebt, wird der Eindruck vermittelt, die Schweizer Handelshäuser hätten sämtliche Transaktionen auf den internationalen Warenmärkten in Alleinregie von ihren Schreibtischen in Winterthur, Zürich oder Genf aus durchführen können. Die Netzwerkstruktur des internationalen Handels und die unverzichtbare Kooperation mit Zwischenhändlern, Investoren und Agenten auf den verschiedenen Kontinenten gerät dabei ebenso aus dem Blick wie der kosmopolitische Charakter von global tätigen kapitalistischen Eliten.

Problematischer ist allerdings der Umgang mit dem Forschungsstand, ein Umstand, der auch schon in früheren Rezensionen angemerkt wurde.1 Vieles, was die Autorin vorstellt, ist bereits aus anderen Publikationen bekannt. Auf die Funktion von Handelshäusern, Informations- und Vertrauenslücken im Welthandel zu schliessen und damit Transaktionskosten zu reduzieren, haben etwa Mark Casson und Geoffrey Jones bereits vor längerem hingewiesen. Die Rolle von imperialer Gewalt für die Entstehung globaler Märkte wurde von Sven Beckert in seinem King Cotton ausgiebig erörtert. Und die Geschichte von Schweizer Handelshäusern war in den letzten Jahren das Thema von Untersuchungen von Béatrice Veyrassat, Sébastien Guex, Andrea Franc, Christof Dejung, Andreas Zangger, Heinrich Christ und Matthieu Leimgruber. Lea Haller kennt all diese Studien, zitiert sie ausgiebig in den Fussnoten und führt sie auch in der Bibliographie an. Es ist deshalb äusserst befremdlich, dass sie in der Einleitung mit keinem einzigen Wort erwähnt werden. Stattdessen ist dort zu lesen: «Über den globalen Transithandel wissen wir so gut wie nichts. Das ist insbesondere für die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, wo der Transithandel seit 150 Jahren zu den grossen Wirtschaftszweigen gehört, bemerkenswert. Wenn der Schweizer Handel untersucht wurde, dann als Aussenhandel.» Über andere Formen der internationalen Wirtschaftsverflechtung gebe es dagegen «kaum historische Untersuchungen.» Das einzige Werk, in dem die Geschichte des schweizerischen Transithandels bis heute thematisiert worden sei, sei die Studie Der schweizerische Grosshandel in Geschichte und Gegenwart, die von Isaak Iselin, Herbert Lüthy und Walter Schiess im Jahr 1943 publiziert wurde (S. 26). Und im Klappentext wird behauptet, mit der vorliegenden Studie werde «erstmals eine detaillierte Geschichte des Transithandels» vorgelegt. Angesichts der inzwischen beachtlichen Menge an Forschungsliteratur zur Geschichte des schweizerischen Transithandels ist eine solche Behauptung doch eher merkwürdig.

In gewisser Weise könnte man Lea Hallers Studie als klug arrangierte Sekundäranalyse der existierenden Forschungsliteratur bezeichnen, deren Befunde, ergänzt um eigene Quellenstudien, in einen grösseren Kontext gerückt werden. Das ist nicht wenig. Angesichts der aktuellen Umwälzungen im Welthandel ist das Thema des Buches hochaktuell und man kann ihm nur eine grosse Zahl an Leserinnen und Lesern wünschen. Es wäre jedoch wünschbar gewesen, wenn die Autorin sich expliziter in der aktuellen Forschungslandschaft verortet und darauf hingewiesen hätte, wo sie auf bestehenden Studien aufbaut, und wo und in welcher Hinsicht sie allenfalls in Widerspruch zu diesen steht und neue Wege einschlägt.

Anmerkung:
1 ‪Friedrich Lenger, Transithandel, helvetisch, auf www.soziopolis.de/lesen/buecher/artikel/transit‬‪handel-helvetisch/ (21. 7. 2020).‬

Zitierweise:
Dejung, Christof: Rezension zu: Haller, Lea: Transithandel. Geld und Warenströme im globalen Kapitalismus, Berlin 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 482-484. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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